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20.11.1941. ".. am 7. November den Plan nicht erfüllt."

 


In Minsk trafen Tausende deutscher Juden ein. Sie waren seltsam gekleidet. Alle trugen Regenmäntel mit Kapuzen, die wie Fischhaut aussahen, in rosa, blau und himmelblau und rechts auf der Brust einen sechseckigen Stern. Sie sprachen nur deutsch. Die Gestapo verjagte die Bewohner der Republikanskaja-, Obuwnaja-, Suchaja- und Opanskaja-Straße und brachte dort die Neuankömmlinge unter. Sie setzte Pfähle und zäunte diesen Bezirk mit Stacheldraht ein.
Die Leute gingen an den Stacheldraht, durch den die deutschen Juden von ihnen getrennt waren. Die Neuankömmlinge gaben bereitwillig Auskunft. Fs waren, wie sich herausstellte, Juden aus Hamburg*, Berlin und Frankfurt. Insgesamt kamen in der Zeit, in der das Minsker Ghetto existierte, etwa 19000 ** hierher. Man hatte ihnen all ihr Eigentum genommen und erklärt, daß sie nach Amerika gebracht werden würden. In Wirklichkeit waren sie im Minsker Ghetto hinter Stacheldraht gelandet. Sie baten um Brot, denn sie glaubten, daß sich die russischen Juden frei bewegen und überall Lebensmittel einkaufen könnten. Die Gestapo-Leute verschafften den deutschen Juden «Arbeit». Jede Nacht kamen sie ins Ghetto und ermordeten 70 bis 80 deutsche Juden. Sie zwangen die Deutschen, die Leichen in Kinderwagen zum Friedhof zu bringen. Dort waren bereits Gruben vorbereitet, für jeweils 30 Ermordete. War eine Grube mit Leichen gefüllt, wurde sie zugeschüttet.

20. November 1941. Noch vor Tagesanbruch kamen die Deutschen und Polizisten ins Ghetto. Diesmal waren die Samkowaja-, die Podsamkowaja-, die Seljonaja-, die Sanitarnaja- und andere Straßen ihr Ziel. Sie jagten die Leute wiederum aus ihren Wohnungen, formierten sie zu Kolonnen und trieben sie nach Tutschinka, zu den Gräbern. Neben den Gräbern war Kalk aufgehäuft. Die Menschen wurden lebend in die Gruben gestoßen, dort erschossen und verbrannt.
Unter denen, die am 20. November ergriffen worden waren, befanden sich viele gute Facharbeiter, die von den Deutschen geschätzt wurden.
Deshalb war zum Beispiel ein Offizier zum Sammelplatz gefahren, hatte dort aber keinen der Ghettobewohner mehr vorgefunden. Er erkundigte sich, wohin sie gebracht worden seien, und begab sich zu dem Feld außerhalb der Stadt, wo sie umgebracht wurden. Es stellte sich heraus, daß seine Arbeiter, bis auf einige Ausnahmen, bereits tot waren. Er konnte durchsetzen, daß die wenigen noch lebenden Arbeiter, die er erkannt hatte, nicht erschossen wurden. Einer von ihnen war der Kürschner Alperowitsch, ein anderer der Frisör Lewin, der die Offiziere täglich rasierte. Auf dem Feld befanden sich auch die Frau und die Tochter des Frisörs. Der Chef des Exekutionskommandos entließ jedoch nur den Frisör und Alperowitsch. Um den Frisör zu demütigen, erlaubte er ihm schließlich, entweder die Frau oder die Tochter mitzunehmen. Lewin entschied sich für die Tochter. Der Offizier schärfte den beiden ein, niemandem zu erzählen, was sie gesehen und erlebt hatten. Man brachte sie in die Fabrik zurück, sie waren weiß wie die Wand und brachten keinen Ton heraus. Alperowitsch war danach lange Zeit krank.

Am 20. November sind 5000 Juden umgekommen.*** Die Leute flüchteten sich in speziell hergerichtete Keller, in Gruben und getarnte Zimmer, die «Malina» genannt wurden; doch auch diese «Maliny» retteten sie nicht: Zu unverhofft erfolgten die Überfälle der Hitlerleute. Die Deutschen rechtfertigten das Pogrom vom 20. November damit, daß am 7.November «der Plan nicht erfüllt worden sei», d.h. eine geringere Anzahl von Juden liquidiert worden war, als es die Obrigkeit gefordert hatte.


* Vgl. dazu: Rosenberg, Heinz, Jahre des Schreckens ...und ich blieb übrig, daß ich Dir's ansage. Göttingen, Steidl Verlag 1985.
** Von November 1941 bis Oktober 1942 wurden aus Deutschland mehr als 35000 Juden nach Minsk deportiert. Ein Teil von ihnen kam ins Minsker Ghetto, die anderen wurden sofort nach Maly Trostjanez, das zehn Kilometer von Minsk entfernt liegt, gebracht und dort ermordet.
*** Am 20. November 1941 kamen in Tutschinka etwa 7000 Juden um.



aus:
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994