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23.05.1939. Zweck der Besprechung: Krieg



Am 23. Mai 1939 hatte Hitler vor Militärs ausgeführt, "es handle sich nicht mehr um Recht und Unrecht, sondern um Sein oder Nichtsein von 80 Millionen Menschen [...] Es wird zum Kampf kommen".
Er versprach den Herren "propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges [zu] geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg."

"Chefsache - Nur durch Offiziere. Bericht über Besprechung am 23.5.1939. Ort: Arbeitszimmer des Führers, neue Reichskanzlei; diensttuender Adjutant: Oberstleutnant d. G. Schmundt.

Beteiligte: Der Führer, Feldmarschall Göring, Großadmiral Raeder, Gen.Oberst v. Brauchitsch, Gen.Oberst Keitel, Gen.Oberst Milch, Gen. d. Artl. Halder, Gen. Bodenschatz, Ktr.Adm. Schniewindt, Oberst i. G. Jeschonnek, Oberst Warlimont, Oberstleutnant d. G. Schmundt, Hauptmann Engel, Korv.Kpt. Albrecht, Hauptmann v. Below.

Gegenstand: Unterrichtung über die Lage und Ziele der Politik.

Der Führer bezeichnet als Zweck der Besprechung
1. Darstellung der Lage.
2. Stellung der sich aus der Lage für die Wehrmacht ergebenden Aufgaben.
3. Klarstellung der sich aus den Aufgaben ergebenden Konsequenzen.
4. Sicherstellung der Geheimhaltung aller Entschlüsse und Arbeiten, die das Ergebnis der Konsequenzen auslöst.

Die Geheimhaltung ist die Voraussetzung für den Erfolg. Nachstehend werden die Ausführungen des Führers sinngemäß wiedergegeben:

Unsere heutige Lage ist unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten:

1. Tatsächliche Entwicklung von 1933-1939.

2. Die ewig gleichbleibende Situation, in der Deutschland ist.
In der Zeit 1933-1939 Fortschritte auf allen Gebieten. Unsere militärische Lage ist gewaltig gewachsen.
Unsere Lage zur Umwelt ist die gleiche geblieben. Deutschland war ausgeschieden aus dem Kreis der Machtstaaten. Das Gleichgewicht der Kräfte hatte sich ohne Deutschland ausbalanciert.
Geltendmachen der Lebensansprüche Deutschlands und Wiedereintritt in den Kreis der Machtstaaten stört das Gleichgewicht. Alle Ansprüche werden als "Einbruch" gewertet. Die Engländer fürchten eine wirtschaftliche Gefährdung mehr als eine durch die Macht allein. Die 80-Millionen-Masse hat die ideellen Probleme gelöst. Die wirtschaftlichen Probleme müssen gelöst werden. Um die Schaffung der wirtschaftlichen Voraussetzungen hierzu kommt kein Deutscher herum. Zur Lösung der Probleme gehört Mut. Es darf nicht der Grundsatz gelten, sich durch Anpassung an die Umstände einer Lösung der Probleme zu entziehen. Es heißt vielmehr die Umstände den Forderungen anzupassen. Ohne Einbruch in fremde Staaten oder Angreifen fremden Eigentums ist dies nicht möglich.

Der Lebensraum, der staatlichen Größe angemessen, ist die Grundlage für jede Macht. Eine Zeitlang kann man Verzicht leisten, dann aber kommt die Lösung der Probleme so oder so. Es bleibt die Wahl zwischen Aufstieg oder Abstieg. In 15 oder 20 Jahren wird für uns die Lösung zwangsweise notwendig. Länger kann sich kein deutscher Staatsmann um die Frage herumdrücken.
Zur Zeit befinden wir uns im Zustand nationalen Hochgefühls in gleicher Gesinnung mit zwei anderen Staaten: Italien und Japan.
Die zurückliegende Zeit ist wohl ausgenützt worden. Alle Schritte waren folgerichtig auf das Ziel ausgerichtet. Nach sechs Jahren ist die heutige Lage folgende: Nationalpolitische Einigung der Deutschen ist erfolgt, abgesehen von geringen Ausnahmen.

Weitere Erfolge können ohne Bluteinsatz nicht mehr errungen werden. Die Grenzziehung ist von militärischem Wert. Der Pole ist kein zusätzlicher Feind. Polen wird immer auf der Seite unserer Gegner stehen. Trotz Freundschaftsabkommen hat in Polen zu lange die innere Absicht bestanden, jede Gelegenheit gegen uns auszunützen.
Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung. Aufrollen des Ostsee- und Baltikum-Problems. Lebensmittelversorgung nur von dort möglich, wo geringe Besiedelung. Neben der Fruchtbarkeit wird die deutsche, gründliche Bewirtschaftung die Überschüsse um ein Mehrfaches steigern.
In Europa ist keine andere Möglichkeit zu sehen.
Kolonien: Warnung vor Schenkung kolonialen Besitzes. Es ist keine Lösung des Ernährungsproblems. Blockade! Zwingt uns das Schicksal zur Auseinandersetzung mit dem Westen, ist es gut, einen größeren Ostraum zu besitzen. Im Kriege werden wir noch weniger wie im Frieden mit Rekordernten rechnen  können.
Die Bevölkerung nichtdeutscher Gebiete tut keinen Waffendienst und steht zur Arbeitsleistung zur Verfügung. Das Problem "Polen" ist von der Auseinandersetzung mit dem Westen nicht zu trennen.
Polens innere Festigkeit gegen den Bolschewismus ist zweifelhaft. Daher auch Polen eine zweifelhafte Barriere gegen Rußland.
Kriegsglück im Westen mit schneller Entscheidung fraglich, ebenso dann die Haltung Polens.

Einem Druck durch Rußland hält das polnische Regime nicht stand, Polen sieht in einem Siege Deutschlands über den Westen eine Gefahr und wird uns den Sieg zu nehmen versuchen.
Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluß bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.
An eine Wiederholung der Tschechei ist nicht zu glauben. Es wird zum Kampf kommen. Aufgabe ist es, Polen zu isolieren. Das Gelingen der Isolierung ist entscheidend.
Daher muß sich der Führer endgültigen Befehl zum Losschlagen vorbehalten. Es darf nicht zu einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit dem Westen (Frankreich und England) kommen.
Ist es nicht sicher, daß im Zuge einer deutsch-polnischen Auseinandersetzung ein Krieg mit dem Westen ausgeschlossen bleibt, dann gilt der Kampf primär England und Frankreich. Grundsatz: Auseinandersetzung mit Polen - beginnend mit Angriff gegen Polen - ist nur dann von Erfolg, wenn der Westen aus dem Spiel bleibt.
Ist das nicht möglich, dann ist es besser, den Westen anzufallen und dabei Polen zu erledigen.
Es ist Sache geschickter Politik, Polen zu isolieren.
Schwerwiegende Frage ist Japan. Wenn auch zunächst aus verschiedenen Gründen kühl einem Zusammengehen mit uns gegenüberstehend, so ist es doch im eigenen Interesse Japans, vorzeitig gegen Rußland vorzugehen.
Zu Rußland sind wirtschaftliche Beziehungen nur möglich, wenn politische Beziehungen sich gebessert haben. In Presseerörterungen tritt vorsichtige Haltung in Erscheinung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Rußland sich an der Zertrümmerung Polens desinteressiert zeigt. Wenn Rußland weiter gegen uns treibt, kann das Verhältnis mit Japan enger werden: Ein Bündnis Frankreich-England-Rußland gegen Deutschland-Italien-Japan würde mich veranlassen, mit wenigen, vernichtenden Schlägen England und Frankreich anzugreifen. Der Führer zweifelt an der Möglichkeit einer friedlichen Auseinandersetzung mit England. Es ist notwendig sich auf die Auseinandersetzung vorzubereiten. England sieht in unserer Entwicklung die Fundierung Hegemonie, die England entkräften würde. England ist daher unser Feind und die Auseinandersetzung mit England geht auf Leben und Tod. Wie wird diese Auseinandersetzung aussehen?

England kann Deutschland nicht in wenigen kraftvollen Schlägen erledigen und uns niederzwingen. Für England ist es entscheidend, den Krieg möglichst nahe an das Ruhrgebiet heranzutragen. Man wird französisches Blut nicht sparen. (Westwall!!)
Der Besitz des Ruhrbeckens entscheidet die Dauer unseres Widerstandes.
Die holländischen und belgischen Luftstützpunkte müssen militärisch besetzt werden. Auf Neutralitätserklärungen kann nichts gegeben werden. Wollen Frankreich und England es beim Krieg Deutschland-Polen zu einer Auseinandersetzung kommen lassen, dann werden sie Holland und Belgien in ihrer Neutralität unterstützen und Befestigungen bauen lassen, um sie schließlich zum Mitgehen zu zwingen. Belgien und Holland werden, wenn auch protestierend, dem Druck nachgeben. Wir müssen daher, wenn bei polnischem Krieg England eingreifen will, blitzartig Holland angreifen. Erstrebenswert ist es eine neue Verteidigungslinie auf holländischem Gebiet bis zur Zuider-See zu gewinnen. Der Krieg mit England und Frankreich wird ein Krieg auf Leben und Tod.
Die Ansicht, sich billig loskaufen zu können, ist gefährlich; die Möglichkeit gibt es nicht. Die Brücken sind dann abzubrechen und es handelt sich nicht mehr um Recht oder Unrecht, sondern um Sein oder Nichtsein von 80 Millionen Menschen.
Frage: Kurzer oder langer Krieg?
Jede Wehrmacht beziehungsweise Staatsführung hat den kurzen Krieg anzustreben. Die Staatsführung hat sich dagegen jedoch auch auf den Krieg von 10- bis l5jähriger Dauer einzurichten.
Es war immer in der Geschichte so, daß man an kurze Kriege glaubte. 1914 war man noch der Ansicht, lange Kriege nicht finanzieren zu können. Auch heute spukt die Auffassung in manchen Köpfen. Dagegen wird jeder Staat solange wie möglich aushalten, wenn nicht sofort eine wesentliche Schwächung (z. B. Ruhrgebiet) eintritt. England hat ähnliche Schwächen. England weiß, daß der unglückliche Kriegsausgang das Ende seiner Weltmacht bedeutet. England ist der Motor, der gegen Deutschland treibt. Seine Stärke liegt im folgenden:
1. Der Brite selbst ist stolz, tapfer, zäh, widerstandsfähig und organisatorisch begabt. Weiß jeden Fortschritt auszuwerten. Er hat das Abenteurertum und den Mut der nordischen Rasse. Mit der Verbreiterung sinkt die Qualität. Der deutsche Querschnitt ist besser.
2. Es ist eine Weltmacht an sich seit 300 Jahren konstant. Vergrößert durch Verbündete. Die Macht ist nicht nur als real, sondern auch als psychologisch erdumspannend zu betrachten.
Dazu kommt der unermeßbare Reichtum mit der damit verbundenen Kreditwürdigkeit.
3. Die geopolitische Sicherung und Beschirmung durch eine starke Seemacht und eine tapfere Luftwaffe.

Englands Schwäche:
Wenn wir im Kriege zwei Panzerschiffe und zwei Kreuzer mehr gehabt hätten und die Skagerrakschlacht am Morgen begonnen hätte, wäre die britische Flotte geschlagen worden und England wäre in die Knie gezwungen worden. Es hätte das Ende des Weltkrieges bedeutet.
Früher genügte es nicht, die Flotte zu schlagen. Man mußte landen, um England zu besiegen. England konnte sich selbst ernähren. Das ist heute nicht mehr möglich. Im Augenblick, wo England von seiner Zufuhr abgeschnitten ist, ist es zur Kapitulation gezwungen. Die Lebensmittel- und Betriebsstoffzufuhr ist vom Schutz durch die Flotte abhängig.
Der Angriff der Luftwaffe gegen England ins Mutterland zwinge England nicht an einem Tag zur Kapitulation. Wird die Flotte jedoch vernichtet, so ist unmittelbare Kapitulation die Folge.
Es besteht kein Zweifel, daß der überraschende Überfall zu einer schnellen Lösung führen kann. Es ist jedoch verbrecherisch, wenn die Staatsführung sich auf die Überraschung verlassen wollte. Die Überraschung kann erfahrungsgemäß scheitern an:
1. Verrat aus größerem Kreis militärischer Fachbearbeiter.
2. Blödsinniger Zufall, der die ganze Aktion zusammenbrechen läßt.
3. Menschliche Unzulänglichkeit.
4. Witterungsverhältnisse.

Der Termin zum Losschlagen muß lange vorher bestimmt werden. Darüber hinaus kann man aber nicht lange in Spannung bleiben. Es muß damit gerechnet werden, daß die Witterungsverhältnisse überraschend das Eingreifen von Flotte oder Luftwaffe unmöglich machen. Dies muß der Bearbeitung als ungünstige Grundlage zugrunde gelegt werden.

1. Anzustreben bleibt, dem Gegner zu Beginn einen oder den vernichtenden Schlag beizubringen. Hierbei spielen Recht oder Unrecht oder Verträge keine Rolle.
Dies ist nur möglich, wenn man nicht durch Polen in einen Krieg mit England "hineinschlittert".
2. Vorzubereiten ist der lange Krieg neben dem überraschenden Überfall unter Zerschlagen der englischen Möglichkeiten auf dem Festlande.
Das Heer hat die Positionen in Besitz zu nehmen, die für Flotte und Luftwaffe wichtig sind. Gelingt es Holland und Belgien zu besetzen und zu sichern, sowie Frankreich zu schlagen, dann ist die Basis für einen erfolgreichen Krieg gegen England geschaffen.
Die Luftwaffe kann dann von Westfrankreich aus die engere Blockade Englands, die Flotte mit den U-Booten die weitere übernehmen.

Folgen:
England kann auf dem Kontinent nicht kämpfen.
Die täglichen Angriffe der Luftwaffe und der Kriegsmarine zerschneiden sämtliche Lebensadern.
Die Zeit entscheidet gegen England. Deutschland verblutet nicht zu Lande.
Diese Kriegführung ist in ihrer Notwendigkeit bewiesen durch den Weltkrieg und die kriegerischen Handlungen seither.
Aus dem Weltkrieg ergeben sich folgende verpflichtende Rückschlüsse für die Kriegführung:
1. Bei einer stärkeren Kriegsmarine zu Beginn des Weltkrieges, oder einem Abdrehen des Heeres auf die Kanalhäfen, hätte der Krieg einen anderen Ausgang genommen.
2. Ein Land ist durch die Luftwaffe nicht niederzuzwingen. Es können nicht alle Objekte gleichzeitig angegriffen werden und wenige Minuten Zeitunterschied rufen die Abwehr auf den Plan.
3. Wichtig ist der rücksichtslose Einsatz aller Mittel.
4. Hat erst einmal das Heer im Zusammenwirken mit der Luftwaffe und Kriegsmarine die wichtigsten Positionen genommen, dann fließt die industrielle Produktion nicht mehr in das Danaidenfaß der Schlachten des Heeres, sondern kommt der Luftwaffe und der Kriegsmarine zugute.
Daher muß das Heer in der Lage sein, diese Position einzunehmen. Der planmäßige Angriff ist vorzubereiten. Das zu studieren ist wichtigste Aufgabe. Ziel ist immer, England auf die Knie zu zwingen.

Jede Waffe trägt die schlachtentscheidende Wirkung nur solange in sich, als sie der Feind nicht besitzt. Das gilt für Gas, U-Boote und die Luftwaffe. Für die letztere traf das zu, solange, zum Beispiel, bei der englischen Flotte keine Abwehr vorhanden war; das wird 1940 oder 1941 nicht mehr zutreffen. Gegen Polen zum Beispiel, wird die Tankwaffe wirksam sein, da der polnischen Armee die Abwehr fehlt.
Wo die Wirkung entscheidend nicht mehr zu bewerten ist, tritt an ihre Stelle die Überraschung und der geniale Einsatz.

Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg,
Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, 1947, Band 2


Erich Kuby, Als Polen deutsch war, 1939-1945, München 1986