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10.03.1943. Die Deutschen versuchen alle bulgarische Juden zu deportieren

 


Gedenken an gerettete Juden
Bulgarien bewahrte im Zweiten Weltkrieg 50 000 Menschen vor der Deportation


Von Klaus Brill
Mit Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen ist am Montag in ganz Bulgarien an die Rettung der knapp 50 000 bulgarischen Juden vor der Vergasung durch die Nazis vor 65 Jahren erinnert worden. Zugleich gedachten die zahlreichen Teilnehmer dieser Veranstaltungen jener mehr als 11 000 Juden, die damals unter bulgarischer Herrschaft in Mazedonien, Nordgriechenland und Ostserbien lebten und die im Gegensatz zu den anderen an Deutschland ausgeliefert wurden. Die Nazis brachten sie in ihr Konzentrationslager Treblinka im besetzten Polen. Dort wurden sie ermordet.
Veranstalter der Gedenkfeiern, die in der Hauptstadt Sofia ebenso wie in mehreren Provinzstädten stattfanden, war die jüdische Organisation Shalom. Ihre Vertreter eröffneten in der nordbulgarischen Stadt Schumen zusammen mit Repräsentanten aller anderen ethnischen Gruppen im Land eine „Allee der Toleranz". Anwesend waren auch Bulgaren, Armenier, Roma, Russen und Türken.
Bulgarien war nach Angaben des renommierten Londoner Holocaust-Forschers Martin Gilbert das einzige Land Europas, dessen jüdischer Bevölkerungsanteil 1945 höher lag als vor dem Krieg. Das Land war damals mit Deutschland verbündet, und zunächst waren nach einem „Gesetz zum Schütze der Nation" bereits 28 000 Juden aus Sofia aufs Land umgesiedelt worden. Als die Nazis jedoch für den 10. März 1943 die Deportation aller Juden ankündigten, erhob sich ein Aufschrei der Empörung im ganzen Land.
Sowohl die geistlichen Führer der orthodoxen Kirche als auch der vormalige Apostolische Nuntius in Sofia und spätere Papst Johannes XXIII. setzten sich energisch für die Rettung der Juden ein. Dasselbe tat eine Gruppe von 43 Parlamentsabgeordneten, angeführt vom stellvertretenden Parlamentspräsidenten Dimitar Peschew, der bei der Rettungsaktion eine Schlüsselrolle gespielt haben soll und in Sofia mit einer eigenen Gedenkplakette geehrt wurde. Auf Peschews Intervention hin engagierte sich auch der damalige Zar Boris III, der Vater des heutigen bulgarischen Politikers Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha. Die Proteste bewogen die Nazis, die geplante Aktion abzublasen.
Nordbulgarische Bauern drohten damit, sich auf die Gleise jener Strecken zu legen, über die die Todeszüge rollen sollten. Der orthodoxe Exarch Stefan wollte den bedrohten Juden die Kirchen öffnen. Zar Boris wurde später von Hitler nach Berlin bestellt. Drei Tage nach seiner Rückkehr starb er auf mysteriöse Weise am 29. August 1943 in Sofia im Alter von 49 Jahren.
(SZ 11.03.2008)
 

BULGARIEN

Bulgarien war 1915 an der Seite von Deutschland und Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg eingetreten und hatte ihn mit ihnen verloren. So hatte es 1919 im Friedensvertrag von Neuilly schwere Gebietsverluste hinnehmen müssen. Es mußte die Süddobrudscha an Rumänien und einige Gebiete in Makedonien an Jugoslawien abtreten. Ferner verlor es Westthrakien an Griechenland und damit den Zugang zum Mittelmeer. Seitdem gehörte Bulgarien zu den revisionistischen Mächten, blieb aber bei Beginn des Zweiten Weltkrieges zunächst neutral.
Doch als Rumänien im Sommer 1940 unter Druck geriet und Gebiete an die Sowjetunion und Ungarn abtreten mußte, nutzte Bulgarien die Gelegenheit aus, verlangte die Rückgabe der Süddobrudscha und erhielt sie im Vertrag von Craiova vom 7. September 1940. Als dann Deutschland im Frühjahr 1941 den Balkanfeldzug vorbereitete, trat Bulgarien auf dessen Seite. Es schloß sich am 1. März 1941 dem Dreimächtepakt an, ließ deutsche Truppen ins Land und erleichterte ihnen so den Einmarsch nach Griechenland und Jugoslawien. Danach besetzte es selbst Griechisch-Thrakien und Jugoslawisch-Makedonien, und diese Gebiete wurden ihm dann von Hitler überlassen. Damit hatte Bulgarien seine territorialen Ziele erreicht. Es beteiligte sich nicht am Krieg gegen die Sowjetunion, war aber mit Deutschland verbündet, und das wirkte sich auf das Schicksal der Juden aus.
In Altbulgarien lebten etwa 50000 Juden, was einem Anteil von weniger als einem Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach. Obwohl die Juden in Bulgarien seit 1878 volle Gleichberechtigung genossen und der Antisemitismus stark zurückgegangen war, schloß sich Bulgarien schon 1940 der deutschen Judenpolitik an und erließ am 24. Dezember 1940 ein erstes antijüdisches Gesetz. Die Juden wurden registriert und verloren viele ihrer Rechte.
1941 wurden diese Maßnahmen auch auf die neugewonnenen Gebiete ausgedehnt. Dort lebten in Thrakien etwa 6000 und in Makedonien etwa 8 000 Juden, was wie in Altbulgarien einem Anteil von weniger als einem Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach. Diese Juden wurden gleichfalls registriert und entrechtet, und sie erhielten anders als die übrigen Bewohner nicht die bulgarische Staatsangehörigkeit.
In Übereinstimmung mit Deutschland verschärfte Bulgarien 1942 seine Judenpolitik. Im August wurde ein eigenes Kommissariat für Judenfragen errichtet, dessen Leitung Alexander Belev übernahm, der 1940 nach Deutschland entsandt worden war, um dort die Judengesetzgebung zu studieren. Seine Aufgabe war, »die Aussiedlung der Juden in die Provinz oder außerhalb des Königreiches« vorzubereiten. Im Januar 1943 traf der deutsche SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, der zuvor die Judendeportationen aus Frankreich geleitet hatte, in Sofia ein und unterzeichnete am 22. Februar mit Judenkommissar Belev eine förmliche Vereinbarung. Demnach sollten in Kürze 20000 Juden in die deutschen Ostgebiete, also in die dortigen Vernichtungslager, deportiert werden, und zwar 8 000 aus Makedonien und je 6 000 aus Thrakien und Altbulgarien.
Als diese Pläne bekannt wurden, kam es Anfang März in der südwestbulgarischen Stadt Kjustendil, wo, wie auch anderswo, die Juden bereits interniert worden waren und auf den Abtransport warteten, zu heftigen Protesten und im Parlament in Sofia zu einer Protestresolution. Die bulgarische Regierung beschloß daraufhin, die Juden in Altbulgarien wieder freizulassen und sie im Lande zur Zwangsarbeit einzusetzen. Deportationen, so ließ sie der deutschen Regierung mitteilen, kämen nur aus Makedonien und Thrakien in Frage. Tatsächlich wurden dann Ende März 1943 aus diesen Gebieten 11 343 Juden nach Treblinka deportiert, 7122 makedonische mit der Eisenbahn von Skopje aus und 4221 thrakische. Diese wurden auf der bulgarischen Eisenbahn quer durch Bulgarien nach Lom an der Donau gebracht, von dort auf Schiffen nach Wien und dann mit der deutschen Eisenbahn nach Treblinka. Dort wurden sie alle ermordet.
Der bulgarische Fall ist außerordentlich. Einerseits war Bulgarien neben Vichy-Frankreich und der Slowakei der einzige Staat, der auf deutschen Wunsch, aber ohne unmittelbaren Zwang und mithin freiwillig Juden an Deutschland auslieferte. Andererseits war Bulgarien das einzige Land, in dem eine Protestbewegung der Bevölkerung die Auslieferung wenigstens der eigenen Juden verhinderte. Zwar wurden diese auch weiterhin verfolgt und aus Sofia in die Provinz ausgesiedelt, aber sie überlebten. Im Herbst 1943 wurden die antijüdischen Maßnahmen gelockert und im August 1944 überhaupt aufgehoben. Das zeigt, daß die bulgarische Judenpolitik hauptsächlich aus Willfährigkeit gegenüber Hitlerdeutschland hervorgegangen war.
 

aus:
Rosh/Jäckel, "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"