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07.01.1943. Danuta Kawecka: Begrüßung in Majdanek

 


Am Abend des 7. Januar 1943 holt man uns Männer und Frauen, darunter meine Eltern und mich, aus dem Gefängnis von Radom ab. In Viehwaggons verladen, entsetzt, frierend und hungrig fahren wir ins Unbekannte.
Ich kuschele mich an meine Mutter und schlafe ein. Gegen Mittag des nächsten Tages kommen wir auf dem Lubliner Hauptbahnhof an, wo zuerst die Männer aussteigen müssen, dann die Frauen. Wir sind mehrere Hundert.
Ich bin hungrig, steif vor Kälte, kann kaum die Beine bewegen. So nach und nach komme ich wieder in Bewegung, laufe durch eine mir unbekannte Stadt. Die Leute auf den Straßen bleiben stehen, manche nehmen den Hut ab, weinen. Vor mir geht die lange Häftlingskolonne, in der ich vergeblich nach meinem Vater Ausschau halte. Ganz vorne kann ich Männer erkennen, die einen Genossen auf den Schultern tragen. Vermutlich hat man den Mann vor der Abfahrt so zusammengeschlagen, daß er nicht laufen kann.
Kurze Zeit später halten Leute aus der Begleitmannschaft einen Pferdewagen an und legen den Mann darauf. Mittlerweile gehen wir immer langsamer. Meine Füße sind inzwischen wärmer geworden, schmerzen aber immer noch sehr. Mutter versucht mich zu trösten, flüstert mir zu, wir werden bald ankommen, uns ausruhen, etwas Warmes essen und meint, daß es dort, wo sie uns hinbringen, sicherlich viel besser sein werde als im Gefängnis.
Dann endet die Stadt. Doch noch immer gehen wir weiter. Bis sich am Horizont etwas Dunkles abzeichnet. Graue Baracken sind zu erkennen. Ein Zaun. Türme.
Die Spitze der Kolonne biegt nach rechts ab und erreicht bald das Lagergelände. Jetzt sehen wir ausgemergelte Menschen, die dort in eigenartig grau-blau gestreifter Kleidung umhergehen. Einige der so Gekleideten stehen sehr merkwürdig am Zaun herum. Einer zum Beispiel hält die Hände nach oben, im Mund hat er eine Steckrübe. Andere recken die Arme hoch, in den Händen übergroße Rüben.
«Was soll das», denke ich. «Warum stehen sie bei diesem Frost so unbeweglich da, können ihre Hände nicht herunternehmen?» Erst später erfahre ich, daß man so den Diebstahl von Steckrüben ahndete.
Ängstlich, aber dennoch voll jugendlicher Neugier, schaue ich mich um. Alles ist neu für mich, unverständlich, entsetzlich.
Und plötzlich sehe ich erneut den Mann auf dem Pferdewagen. Während die Männer ein Feld betreten, hält man uns Frauen zurück. Ich komme so nah an dem Wagen zu stehen, daß ich ihn mit der Hand hätte berühren können. Der Mann liegt auf der linken Seite, mir zugewandt, mit unbedecktem Kopf. Der Pelzkragen seines Wintermantels ist hochgeklappt, seine Hosenbeine bis zu den Knien hochgezogen. Es sieht so aus, als erlaubten die Begleiter es nicht, daß man sie herunterzieht. Oberhalb der Socken gucken nackte, unnatürlich verdrehte Beine heraus. Seine Hände sind eigenartig zusammengekrümmt und ans Gesicht gedrückt. Steife, geschwollene Finger mit abgerissenen Nägeln. Offene Augen, klar und himmelblau. Reif auf Wimpern und Brauen. Und das Gesicht, der Kopf, die entblößten Hände und Beine sind violett, gelb, grün.
Dieser Mensch ist so gefoltert, so geschlagen worden, daß er nicht einen Quadratzentimeter seiner Haut mehr unberührt hat. An Händen und Beinen keinen heilen Knochen mehr. Zum erstenmal in meinem Leben sehe ich einen derart malträtierten Menschen. Ich bin wie versteinert, schaue ihn immerzu an, derweil mir die Tränen über das Gesicht rinnen.
Während ich noch so dastehe, kommt ein untersetzter Mann in roten Hosen und schwarzen Stiefeln. In der Hand hält er einen dicken Ochsenziemer. Hinter ihm läuft ein ähnlich gekleideter junger Bursche. Der Mann rennt auf den Wagen zu, schaut sich neugierig den Liegenden an, packt ihn am Haarschopf, reißt seinen Kopf empor und läßt ihn wieder fallen. Bis heute noch höre ich das leise Stöhnen und den dumpfen Aufprall des Kopfes auf den Wagenbrettern. Später erfahre ich, daß der Mann mit dem Ochsenziemer der Lagerälteste von Feld III war, «Teufel» genannt. Und der junge Mann sein Günstling, Bubi, ein etwa zwölfjähriger jüdischer Junge, der in Majdanek seinem Vater mit einem Hammer den Kopf zertrümmert haben soll.
Ich bin so erschüttert, daß ich nicht mehr weiß, wie ich auf Feld V gekommen bin. Erst als ich auf die obere Pritsche klettere, die meine Mutter für mich mitbelegt hat, kann ich wieder klar denken. Erschöpft lege ich mich auf die nackten Bretter, kuschele mich an Mutter und lasse mich von ihr mit einem als Matratze dienenden, zerissenen Papiersack zudecken. Es ist dunkle Nacht.
 

aus:
Ingrid Müller-Münch
Die Frauen von Majdanek, 1982