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Auch Künstler haben Expertenwissen und das deutsche Publikum weiß es zu schätzen

 
SZ v. 13.03.2006

Erlebniswelt Gaskammer

Zentralrat kritisiert Aktion Santiago Sierras in Synagoge
Es (sic!) hat es doch getan. So wie er es immer tut, wenn man ihn lässt. Santiago Sierra hat am Sonntag von 11 bis 17 Uhr über Kunststoffschläuche 245 Kubikmeter Kohlenmonoxid aus den Auspuffrohren von sechs Autos in einen Raum des einstigen jüdischen Bethauses von Pulheim-Stommeln bei Köln leiten lassen. Hat Besucher mit Atemschutzmasken in Begleitung eines Feuerwehrmannes - auf eigene Gefahr - den Raum betreten und in dem tödlichen Gas einige Minuten ausharren lassen. Und hat damit, so jedenfalls die schriftliche Erklärung Sierras, „gegen die Banalisierung der Erinnerung des Holocaust" etwas unternommen.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland, immer daran interessiert, neue Wege für die Erinnerung an den Holocaust zu finden, bezeichnete Sierras Aktion als „niveaulos": Sie gehe „über die Grenzen dessen, was angemessen ist, weit hinaus", sagte der Generalsekretär des Zentralrates, Stephan J. Kramer: „Wenn das die neue Form der Erinnerung ist, sollen wir dann Auschwitz wiedereröffnen und an die Besucher Gasmasken verteilen, um ein authentisches Erfahrungserlebnis zu bekommen?"
Bei Sierras Projekten gehört schneidende Empörung quasi zur Grundausstattung, und am häufigsten werfen ihm Kritiker Zynismus vor. In Mexico City tätowierte er einem jungen Mann für 50 Dollar einen Strich auf den Rücken, und in Havanna zeichnete er gleich sechs Kubaner damit: eine Linie über sechs Körper hinweg, für 30 Dollar pro Kopf. Auf der Biennale in Venedig färbte er 133 Afrikaner blond, Um sie „europäischer" zu machen, dann ließ er Migranten an der Straße von Gibraltar gräbergleiche Löcher ausheben, und wiederum in Venedig verrammelte er den spanischen Pavillon für Gäste ohne spanischen Pass. Oft geht es um Rassismus in seinem Werk, um das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd, und fast immer um die Entwertung des „Rohstoffes" Mensch, der seine Haut in einer entfesselten Globalisierung für Dumpingpreise zu Markte trägt.
Und nun also „245 Kubikmeter". Bis zuletzt war nicht ganz klar gewesen, was Sierra genau plante. Sehr rasch aber füllte sich am Sonntag die Anmeldeliste für den Besuch in der Synagoge von Pulheim-Stommeln, wo sich seit fünfzehn Jahren Künstler wie Richard Serra, Eduardo Chiliida, Rosemarie Trockel oder Sol LeWitt in Arbeiten mit dem Gedenkort auseinandersetzen. Pulheims Bürgermeister Karl August Morisse verteidigte die Aktion: Er könne nicht glauben, „dass sich jemand beleidigt fühlt, weil die Sinnhaftigkeit des Werkes offenkundig ist". Gegenüber dem Massenmord an den Juden sei „Gleichgültigkeit das Schlimmste". Kritikern biete er eine Diskussion an. Bis zum 30. April will Sierra jeden Sonntag das „sinnliche Erlebnis" der drohenden Vergasung inszenieren. Nur am Ostersonntag setzt er aus. zri