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  • Fluchschrift    22. Juli 1993 / Frankfurt/M. 
    - Gegen das organisierte Deutschtum. Für den Wiederzusammenbruch -


     
    Programm und Pogrom

    - Besetzung des Frankfurter Sozialamtes durch Roma -

    I. 

    Am 4.6. und am 14.6.1993 besetzten Roma-Familien, die Roma-Union Frankfurt und UnterstützerInnen das Sozialamt (Berliner Str.) in Frankfurt am Main. Es war eine Reaktion auf die Schikane der Frankfurter Behörden gegen hier lebende Roma, die seit Frühjahr dieses Jahres an Intensität und Brutalität zugenommen hat. Es war zugleich eine Solidaritätsaktion mit der Mahnwache "Fluchtburg Konzentrationslager" am ehemaligen KZ Neuengamme bei Hamburg. und deren Forderungen. U.a.: Die Anerkennung als ethnische und kulturelle Minderheit vor dem Hintergrund der besonderen Verantwortung des deutschen Volkes gegenüber den Roma; Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien ein gesichertes Bleiberecht zu gewähren; die Resolution der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen "Schutz der Roma" nachträglich zu unterzeichnen. Zu diesem Zeitpunkt stand die Räumung der Hamburger Mahnwache und damit die Abschiebung der ausländischen Roma kurz bevor.

    In Frankfurt sind die betroffenen Familien einer monatelangen systematischen Diskriminierungs- und Vertreibungspolitik ausgesetzt. Systematisch nicht nur im Sinne einer planmäßigen Verfolgung seitens der Behörden im Vollzug der neuen Asylbeschlüsse und der "Rückübernahme-Abkommen" u.a. mit Rumänien, sondern auch im Sinne eines in Deutschland traditionellen vorauseilenden Gehorsams einzelner zuständiger Personen. 

    Seit Frühjahr 1993 erhalten Frankfurter Roma mit dem Rechtsstatus "Staatenlos" , Fremdenpässen und akzeptiertem Aufenthalt von verschiedenen Sozialstationen Bescheide mit folgendem oder ähnlichem Inhalt:
    "Da Sie derzeit nicht im Besitz der rumänischen Staatsbürgerschaft ... sind, ist eine Rückkehr in Ihr Heimatland derzeit nicht möglich ... Sie wurden daher aufgefordert, die Rückkehr und die Wiedereinbürgerung in den Rumänischen Staatenbund zu betreiben. Im Rahmen Ihrer Mitwirkungspflichten nach dem Sozialgesetzbuch ist es Ihnen bei der vorliegenden Sachlage durchaus zuzumuten in Ihr Heimatland zurückzukehren." Den Roma werden Vollmachten zur Unterzeichnung vorgelegt, in der Bedienstete der Frankfurter Sozialstationen ermächtigt werden, in ihrem Namen die Ausstellung von rumänischen Reisepässen, bzw. ein Wiedereinbürgerungsverfahren zu betreiben (vgl. Taz v. 21.Mai 1993). 

    Betroffen sind davon bisher in Frankfurt etwa 30 Roma-Familien. Sie werden diesem Druck nicht nachgeben, auch wenn sie in der Abwehr dieser rassistischen Angriffe auf sich allein gestellt sind. Das weiß auch die Sozialbehörde. Deshalb wird "nachgeholfen": Um sie zu zwingen, die Vollmachten zu unterschreiben, wird ihnen die Sozialhilfe, die Mietzahlung und der Krankenschutz entzogen, verbunden mit der Option, bei Unterzeichnung obiger Vollmacht könnten diese wieder ausgezahlt werden.
    Dies riecht kilometerweit nach Abschiebung und ist es auch, denn gemäß "Rückübernahme-Abkommen" zwischen Deutschland und Rumänien werden alle in Deutschland lebende rumänische Roma abgeschoben. Nur am Rande: Für den Stadtrat Cohn-Bendit (Multi-Kulti-Amt Frankfurt), der sich in der Vergangenheit des öfteren rassistisch und abfällig über Roma geäußert hatte (noch besonders gut in Erinnerung ist der Auftrag zu einer Studie im Jahre 1990, in der eine "Sondererfassung" bei den Frankfurter Behörden angeregt wurde), bedeutet dieser Versuch der Sozialbehörde geringschätzend und verharmlosend ein "unerlaubter Eingriff der Behörde in die Privatsphäre des einzelnen" (FR 13.7.1993). 

    Die Praxis des Sozialamtes wurde mittlerweile gerichtlich abgesichert. Die Behörden haben sich ihre rassistische Innovation vom Verwaltungsgericht Frankfurt bestätigen lassen.
    Da für die Betroffenen, so das Urteil, 
    -"die Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluß in die Bundesrepublik Deutschland von prägender Bedeutung gewesen ist", "dafür spricht, daß sie mittellos in Deutschland eingereist und bislang keiner Arbeit nachgegangen sind",
    - da sie ihre "Entlassung aus der rumänischen Staatsangehörigkeit" deshalb beantragt haben sollen, um an die deutsche Sozialhilfe zu gelangen,
    - sie ihre "Mitwirkung" am Bestreben der Sozialbehörde, sie wieder zu "repatriieren", verweigern,
    - sie also bzgl. ihre eigenen Abschiebung nach Rumänien nicht aktiv werden, 
    gibt das Verwaltungsgericht Frankfurt und das Oberverwaltungsgericht Kassel dem Entzug der Sozialhilfe etc. durch die Frankfurter Behörden recht. Es "erscheint als zumutbares Mittel der Selbsthilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG) und kann deshalb von den Antragsstellern erwartet werden, daß sie ihre Wiederaufnahme in die rumänische Staatsbürgerschaft betreiben."
    Kein Wort in den Urteilen darüber, daß es sich bei den zur Abschiebung "bereitgestellten" Menschen um Roma handelt. Laut Urteil gibt es für die deutsche Justiz keine Roma, nur rumänische StaatsbürgerInnen.
    "Die ofizielle Politik in Deutschland versucht die Roma als Volk totzuschweigen. Sie mißachten das Selbstbestimmungsrecht der Roma indem sie den Roma das Recht aberkennen als eigenständiges Volk, als ethnische Minderheit in Deutschland zu leben, indem sie täglich Heimat- und de facto Staatenlosen Roma durch deutsche Verwaltungen fremde Staatsbürgerschaften zuordnen damit sie unter dem Deckmantel von ´Reintegrationsprogrammen´ Roma in beliebige Vertragsstaaten abschieben können." (RNC) 
    Was vorher schon Entschluß war, nämlich die Roma nach Rumänien abzuschieben, stellt sich nach einem sich selbst bestätigenden juristischen Verfahren als Ergebnis wieder ein. Was zuerst hineingestopft wird, guckt dann wieder heraus. Dermaßen abgesichert bewegte sich auch alles andere nur in einem rassistischen circulus vitiosus: Da nach deutscher Sicht in Rumänien keine besondere Verfolgung von Roma besteht, ist, wenn Roma in Deutschland Sozialhilfe beantragen, genau dies für die Behörden der Grund ihrer Flucht.

    Daß ausgerechnet das Sozialamt den Roma empfiehlt, zwecks Erlangung der Sozialhilfe die Wiedereinbürgerung in die rumänische Staatsangehörigkeit zu betreiben, also genau das zu tun was der Abschiebegrund sein soll ("Erschleichung der Sozialhilfe" - Sozialamtsleiter Staymann), grenzt schon an ungeheuren Zynismus und zeigt den unbedingten Wunsch, die Roma mit allen Mittel "loszuwerden".
    In dieser Argumentation seitens des Sozialamtes spielt denn auch keine Rolle mehr, daß sie bis zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel an der "Rechtmäßigkeit" des Anspruches auf Sozialhilfe hatten. Was jahrelang als normal galt, wird im Jahre 4 nach der Wiedervereinigung und der völkischen Abschottung zu Mißbrauch und krimineller Tat erklärt. 

    Um dieses Vorhaben zu behindern, wurde das Sozialamt besetzt. Die BesetzerInnen forderten die weitere Auszahlung der HLU (Sozialhilfe), der Miete, die Gewährleistung des Krankenschutzes, die unverzügliche Bereitstellung von geeignetem und ausreichendem Wohnraum, sowie ein gesichertes Bleiberecht für die Roma-Familien. Ein bescheidenes und doch im Kontext der deutschen rassistischen Normalität ein offensichtlich nicht mehr durchsetzbares Verlangen. Das zeigte auch der Verlauf und die Ergebnisse dieser Besetzungen.
     

    II.

    Wenige Tage nach dem Pogrom von Rostock wurde das Abschiebeabkommen mit dem rumänischen Staat geschlossen. Damit kam Bundesinnenminister Seiters auch dem Anliegen des Pogroms entgegen, das er mit den Worten kommentierte, daß "große Teile der Bevölkerung besorgt über den massenhaften Zustrom von Asylbewerbern" seien. "Der Reichskristallnacht von Rostock folgen Deportationen in den Osten, eine Fortsetzung der nationalsozialistischen Politik mit anderen Mitteln", nannte dies Rudko Kawczynski vom Roma National Congress. Daß die Hauptbetroffenen des Abschiebevertrages Roma sind, bezeichnen die Nachkommen der Täter, die im Nationalsozialismus 500 000 Roma und Sinti ermordet haben, als Zufall. Aber wer glaubt an Zufälle in Deutschland, wenn es um die Durchsetzung rassistischer Politik geht. 

    Das rassistische Staatsprogramm im Inneren (z. B. Asylbeschleunigungsgesetz, Abschaffung des §16 und exterritoriale Abschiebelager am Flughafen)- wird mittels der Machtposition der Bundesrepublik gegenüber den östlichen Anrainerstaaten durch einen cordon sanitaire erweitert. Diese Maßnahmen gegen Flüchtlinge ließ sich die Bundesregierung einiges kosten, denn wer um die "Reinheit der deutschen Gesellschaft" besorgt ist, dem ist kein Preis zu hoch. Für Rumänien und Makedonien je 30 Millionen Mark. Nach Makedonien, dem diese Millionen gezahlt wurden, um als "Müllhalde" für deportierte Roma zu dienen, ist der vorläufig letzte Vertrag mit Polen "über die Zusammenarbeit hinsichtlich der Auswirkungen von Wanderungsbewegungen" für 120 Millionen geschlossen worden. Dieser Abschiebevertrag legt fest, daß die "Kostenbeteiligung" der BRD für die Aufrüstung an den Grenzen und die polizeiliche Ausstattung Polens zu nutzen ist. Damit soll der BGS-"Sicherheitstandard", eine materielle Form der deutschen rassistischen Abschottungspolitik, in die osteuropäische Länder vorverlagert werden. 

    In der einstigen sozialistischen Ostseemetropole Rostock randalierte der deutsche Mob und versuchte Flüchtlinge zu töten. Daß es ihm nicht gelungen ist, kann in gewisser Weise als ein göttliches Wunder betrachtet werden, denn menschliche Hilfe für die Flüchtlinge war weit und breit nicht zu erkennen. Anlaß war die Nichtbereitstellung von Wohnraum für Flüchtlinge und damit die bewußte Freigabe dieser Menschen für rassistische Angriffe; die verantwortlichen Politiker und Bürokraten kennen ihr Volk. Motivation der Angriffe waren die in Deutschland traditionell vorherrschenden rassistischen Urteile und Ressentiments gegen Roma und Sinti. Das Selbstbewußtsein, die grenzenlose Selbstgerechtigkeit, sowie die Sicherheit über die Risikolosigkeit ihres mörderischen Tuns bezieht die "Hetzmasse" (Elias Canetti) aus der kollektiven geschichtlichen Erfahrung der Machbarkeit der Vertreibung und Ermordung der Juden, Roma und Sinti im Nationalsozialismus. 



    "Aber auch diese wenigen Ausnahmen provozierten das gesunde deutsche Volksempfinden - beispielsweise das der Frau Margarete Dickow. Sie schrieb im Herbst 1943 namens ihrer Kleingärtnerkolonie ('Kiefernheide' in Berlin-Karlshorst) an das Polizeipräsidium: 'Ich habe in meinem Block Zigeunerfamilien mit acht und vier Kindern wohnen. Ich bitte für alle Volksgenossen, welche in der Kolonie wohnen und sich bemühen, anständige Menschen aus ihren Kindern zu machen, diesem Zustand ein Ende zu bereiten, indem die Zigeuner verschwinden.' Der Polizeipräsident wies dieses Ansinnen zunächst zurück. Darauf meldeten sich die Kleingärtner - bestes Berliner Arbeitermilieu - am 28. Oktober 1943 kollektiv zu Wort: 'Wir sprechen hierdurch die dringende Bitte aus', insistierten sie, 'daß die Zigeuner, die noch auf Kleingartenparzellen hausen, endlich einem Sammellager überwiesen werden. Abgesehen davon, daß hierdurch Kleingärtner von unliebsamen Menschen befreit werden, würden auch Kleingärtnerparzellen frei werden.'" (aus: Aly, Götz, Logik der Vernichtung, in: taz, 17.12.1992) 

    "Daß sich aus der Fremdartigkeit der Roma, ihrem konsequenten Festhalten an fremden Traditionen eine intensive Ablehnung durch die Bevölkerung, verbunden mit erheblichen Vorurteilen, entwickelte, erscheint als normal. Gleichermaßen verständlich ist, daß sich solche Gefühle jetzt gewaltsam Bahn brechen." beschreibt das Bundesamt für die konsequente Reinhaltung deutscher Gesellschaft in Zirndorf diesen Rassismus wohlwollend, ob es die Situation in Rumänien oder in Deutschland beschreibt. Oder von Bürgers irgendwo in deutschen Landen volksdeutschtümlich auf den Punkt gebracht: "Wir haben nichts gegen Asylanten, nur gegen Roma" oder "Es ist eine Frechheit von den Medien zu behaupten, daß wir ausländerfeindlich sind. Es geht um die Zigeuner, die dreckig sind." oder "Ich bin nicht ausländerfeindlich, aber wie die sich hier bewegen, das geht doch gegen jede deutsche Norm." In den Wohnsiedlungen, den Schrebergärtenanlagen, dort, wo die deutschen Bürger gemütlich-dumpf brüten, sich kontrollieren durch Blockwarte, Putzordnungen und Gardinen- und Spionblicke, auch mal den angestammten Parkplatz mit der Waffe verteidigen, dort sind die Stätten der Pogrome, hier wohnen die Bürgermobs. Ob in Rostock der ehemals volkseigene Rasen verschmutzt, oder in Frankfurt-Kalbach der Parkplatz verunreinigt: die Analfixierung ist gesamtdeutsch.
    Während die Bundesregierung Abschiebeabkommen durchsetzt und finanziert machen BürgerInnen per Bürgerinitiative und/oder Steckbriefe gegen Sinti und Roma mobil. 5.000 in harter DM haben Nachbarn eines Essener Flüchtlingsheimes an Skinheads gezahlt, damit sie Roma terrorisieren. Die "Deutsche Liga" im Rat der Stadt Köln verteilte fast ungestört 50 000 Flugblätter und verklebte 3000 Plakate als Steckbriefe zur Auffindung einer in Köln illegal lebenden Roma aus Makedonien und belohnte die Denunziation mit einem Kopfgeld. Vertreter einiger Städte verteilen "Informationen für ausländische Mitbürger" (Ausländer-Knigge), in denen "wichtige Ratschläge für die Anpassung an die deutschen Gewohnheiten" gegeben werden, wovon der wichtigste wohl der ist, daß durch fleißiges Putzen, sich AusländerInnen bei Deutschen beliebt machen.

    Wo in Deutschland Roma-Flüchtlinge untergebracht sind, gibt es eine neudeutsche Protestform: Anti-Roma-Bürgerinitiativen, so in Nordrhein-Westfalen zeitgleich etwa neun an der Zahl, aber auch in Lebach, Goldberg, FFM-Kalbach, FFM-Seckbach und anderswo. Wie selbstverständlich und öffentlich, sogar mit Argument und Gegenargument, wird in diesen Inis darüber diskutiert, ob die Roma verschwinden sollen. Andernorts bilden sich Bürgerwehren, unter Anleitung von Polizeibeamten. Keine Roma ohne Angriffe durch deutsche Bürger, das ist im "sauberen und ordentlichen" Deutschland Normalität. 
    Nach dem Selbstverständnis der BürgerInnen und PolitikerInnen handelt es sich bei den Vertreibungen nicht um "Ausländerfeindlichkeit", sondern um berechtigten, an Sachlichkeit und deutschen Normen orientierten Selbstschutz.

    In dieser Balance von Pogrom und Programm, oder besser: in diesem gegenseitigen Hochschaukeln von Masse und Führung verfestigt sich der rassistische Alltag.
     

    III.

    Nachdem die Menschenjagd an den Grenzen hochgerüstet ist, nach dem vorläufigen Abschluß der Abschiebeabkommen, während den Pogromen und tausendfachen Anschlägen im Lande lassen sich nun die regionalen Behörden was einfallen, z.B. um staatenlose Roma, die schon längere Zeit in Deutschland leben und aufgrund ihres Status nicht abgeschoben werden können, "abschiebefähig" zu machen. Das Sozialamt in Frankfurt gibt für diese "Kreativität", die das rassistische Programm vervollkommnet, ein anschauliches Beispiel und bewegt sich damit auf neuem Terrain: der Zerstörung der Existenzgrundlage von Familien wird zum Hebel fremdenpolizeilicher Säuberungen. Der Seiters-Kurs nimmt in den Sozialbehörden Gestalt an.  Auf dem Hintergrund des "Zigeuner-raus-Aktionismus" und der "Sozialmißbrauchs"-Diskussion in der Gesellschaft werden Mitarbeiter der Sozialbehörden in einer rassistischen Initiative von unten tätig. 


    "Der organisatorische Mechanismus der Massenvernichtung funktionierte aber nicht nur aufgrund einer streng hierarchischen Befehlslenkung "von oben nach unten", sondern es gab auch eine "Initiative nach oben". Wie in jeder Bürokratie, so wurden auch hier Aufgaben delegiert. Untere Dienstellen hatten Vorschläge zu unterbreiten und konnten Anregungen geben, die entweder gebilligt oder abgelehnt wurden. Zwar blieb die Hierarchie der Entscheidungsbefugnisse - d.h. das formelle System der Verantwortlichkeit - gewahrt; die untergeordneten Dienststellen erlangten jedoch durch ihren praktischen Einfluß auf die Aktionen eine gewisse Schlüsselstellung in dem Geschehen, während die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten mehr den Charakter von Ermächtigungen und Genehmigungen bekamen. ... Der Befehl wechselte hier also gewissermaßen seine Funktion; er veranlaßte das Handeln nicht, sondern entlastete von der Verantwortung. ... derjenige, der "von oben gedeckt" war, konnte durchaus Urheber einer Terrormaßnahme sein." (aus: Jäger, Herbert, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialist. Gewaltkriminalität, S.52/53) 

    Federführend in den "Verhandlungen" während der Besetzungen war Ingo Staymann ("Hier geht keiner raus, ohne mich als Nazi zu beschimpfen.", FR v. 13.7.93), der Chef der Sozialadministration. Immer wieder kam er darauf zurück, die Familien sollten doch den Wiedereinbürgerungsantrag unterschreiben, sofort bekämen sie Sozialhilfe und versicherte, "ich werde mich persönlich dafür einsetzen, daß die Familien nicht abgeschoben werden !" Das Anliegen des Sozialamtes, die Roma zu vertreiben, war identisch mit seinem persönlichem. Mit geschultem rassistischen Blick erkannte er sofort Mißbrauch: "Sie sehen aber gar nicht so verhungert aus". Nachdem er dafür gesorgt hatte, daß die Familien obdachlos geworden waren, er ihnen die Existenz entzogen hatte, sprachen ihr Überleben, ihr Versuch die Würde unter unwürdigen Bedingungen zu behalten, alle Formen der familiären Selbsthilfe, und schließlich auch die Besetzungsaktion selbst gegen sie. Nur tote "Zigeuner" hätten Staymann von ihrer "Ehrlichkeit" und Bedürftigkeit wirklich überzeugen können. Der adrette, rosig-korrekte Sozialamtsleiter reproduzierte durch den von ihm verursachten monatelangen Kampf ums Überleben genau das Bild vom bettelnden, ärmlichen und fordernden "Fremden", als rassisches Merkmal, das Roma von den Deutschen unterscheidet. Und dozierte konsequenterweise: "das ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein ethnisches Problem". 

    Tatsache ist, wir haben es hier mit einem deutschen Problem zu tun: Die Einheit von Funktion und Person, die Unfähigkeit mit Menschen (Blick-) Kontakt aufzunehmen, sich als Initiatoren einer rassistischen Initiative noch als Opfer zu fühlen. Als einer der Betroffenen erzählte, daß die Deutschen im Nationalsozialismus fast seine gesamte Familie umgebracht haben, rief dies nur peinliche Gefühle bei den anwesenden FunktionsträgerInnen hervor. Für sie ein unfaires, ja perfides Erinnern, das mit der "Sache" nichts zu tun hat.

    Sozialdezernent Berg (SPD), der politisch Verantwortliche für die Durchsetzung des Seiters-Kurses im Inneren, trat nur kurz auf den Plan. Konfrontiert mit den von seiner Politik betroffenen Menschen, verschob er die konkrete, politische Entscheidung auf den Sachzwang der Administration, dem auch er machtlos gegenüber stünde. Dann glänzte er zynisch mit einem "kritischen" Vortrag über die Bonner Asylpolitik, die die eigentliche Verantwortung trage. Die BesetzerInnen zeigten sich nicht "diskursbereit" und so ließ er seinen Adlatus, Frischkorn, die "Schmutzarbeit" machen. Dieser konnte seinen Fähigkeiten, die er während seiner linken politischen Vergangenheit erworben hatte, in den Verhandlungen und Flurgesprächen einsetzen: Betroffenheit, auch er stamme von Roma ab, und Abwehr des Rassismusvorwurfs. Wenige Tage nach den Morden von Solingen war man da empfindlich. Bei der zweiten Besetzung allerdings zeigte er -schon mehr "Souveränität". Er drohte mit der polizeilichen Räumung.

    Nach zähen Verhandlungen wurde nur der offensichtliche Rechtsbruch beseitigt: die Wiedergewährung des Krankenschutzes, Hilfe für eine Schwangere und die Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft. Alles andere wurde abgelehnt oder ignoriert. 
    Für die Betroffenen heißt das, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu überleben: z.B. in einem Kleinbus mit einem gelähmten Kind, ständig den Angriffen auf der Straße ausgesetzt, Passanten werfen mit Flaschen nach ihnen, die Kinder werden geschlagen; Schikane in der Obdachlosenunterkunft bis zum Rausschmiß, der Anlaß: zu viele lebhafte Kinder und ein Eisschrank vom Sperrmüll; diejenigen, die noch eine Wohnung haben sind von der Räumung bedroht; obendrein machen die BürgerInnen in den Frankfurter Stadtteilen Kalbach, Seckbach, in Eppertshausen und anderswo gegen Roma mobil, sei es in Ortsbeiratssitzungen oder Bürgerversammlungen.

    Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Für die Betroffenen hat sich nur wenig geändert.
    Im Netzwerk von rassistischem Staatsprogramm, von Pogromen oder Stimmung in der Bevölkerung und "kreativer " Innovation seitens der Behörden: an der "Übermacht der rassistischen Verhältnisse" bricht sich die antirassistische Aktion. Programm, Pogrom und rassistischer Diskurs bedingen sich gegenseitig und haben sich verfestigt. Somit sind die Widersprüche, die sich diese Form der antirassistischen Intervention zunutze machen will, um Staat und Behörden oder gesellschaftliche Organisationen in Legitimationsprobleme zu bringen, nicht vorhanden. Das Motto "den rassistischen Konsens aufbrechen" muß vor diesem Hintergrund überdacht werden. 
     

    Anhang:

     "Fluchtburg Konzentrationslager"

    Am 16. Mai 1940 begannen die Nazis mit den Deportationen der Sinti und Roma aus Neuengamme nach Polen in das damalige "Generalgouvernement", vor allem in das "Zigeunerlager" nach Auschwitz. Bis 1945 wurden im Rahmen des planmäßigen Völkermordes 500 000 Sinti und Roma von den Deutschen ermordet. 

    Am 16. Mai 1993 versuchten Roma das ehemalige KZ Neuengamme in der Nähe von Hamburg zu besetzen. 53 Jahre nach ihrer systematischen Verfolgung, Selektion und Ermordung riegelten Hundertschaften von deutscher Polizei das Gelände ab und hinderten die Roma prügelnd am Betreten der Stätte ihres Gedenkens. 

    Der Polizeieinsatz vollzog die Entscheidung der Kultursenatorin Weiss, die erklärte, daß "illegale Besetzungen und Gewalt" nicht erwünscht sind. In der Bundesrepublik Deutschland, die die "Rechts-Nachfolge" des NS-Staates angetreten hat, gehören ehemalige Konzentrationslager konsequenterweise zum "deutschen Kulturgut". Das Bezirksamt Bergedorf, das sich dem Verbot anschloß, erklärte das ehemalige KZ zur "Grün- und Erholungsanlage" und drohte mit Strafanzeige, sollte es durch die Roma zu einer "zweckwidrigen Überbeanspruchung" der Anlage kommen. 

    Die Nachkommen der Täter bestimmen die Art und Weise der Nutzung ehemaliger deutscher Vernichtungsstätten. Die Nachkommen der Opfer haben sich diesem Diktat gefälligst zu unterwerfen und werden mit Gewalt von diesen Orten, die nach der Wiedervereinigung zur Entsorgung der deutschen Geschichte genutzt werden, ferngehalten. 

    Die Roma errichteten gegenüber der Gedenkstätte Neuengamme eine Mahnwache. Rudko Kawczynski, der Präsident des Roma National Congress (RNC), trat parallel zur Aktion "Fluchtburg Konzentrationslager" in ein "unbefristetes Fasten und Beten". 

    In einer Erklärung vom 5.5.93 hatte der RNC angekündigt, zusammen mit Romaverbänden in Deutschland das ehemalige Konzentrationslager zu besetzen, um dort ein Flüchtlingslager für Roma zu errichten, die von dem Deportationsabkommen der deutschen Regierung mit Rumänien betroffen sind. Mit der Ankündigung der Aktion "Fluchtburg Konzentrationslager" wurde der Bundesregierung ein Postulatum mit sieben Forderungen übersandt. 
    "Die Situation der Roma im wiedervereinigten Deutschland ist durch Deportationsabkommen, Ausweisungen, Zeitungshetze, Nichtanerkennung als Volk und Diffamierungen durch Politiker in einen dumpfen Zigeuner-Raus-Aktionismus geprägt. ... 
    Nach Auschwitz und einer halben Million ermordeter Roma kann es keine Normalität zwischen Deutschen und Roma geben. Das Vorgehen der Deutschen Regierung wird vor diesem Hintergrund zu einer Vergangenheitsbewältigung durch fortgesetztes Unrecht." (Aus der Erklärung des RNC) 

    Die Forderungen: 
    - Die Anerkennung als ethnische und kulturelle Minderheit vor dem Hintergrund der besonderen Verantwortung des deutschen Volkes gegenüber den Überlebenden des Holocaust 
    - Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien im Rahmen einer einmaligen humanitären Aktion ein gesichertes Bleiberecht zu gewähren, analog der Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion; 
    - Die Finanzierung der für Roma errichteten "townships" in den Ghettos osteuropäischer Staaten sofort einzustellen; 
    - Roma-Flüchtlinge entsprechend der Genfer Konvention zu behandeln, und ihnen im Einklang mit der Konvention Flüchtlingspässe auszustellen; 
    - Sich verbindlich zur konkreten Umsetzung der bisherigen europäischen Resolutionen und Empfehlungen durch besondere Maßnahmen zu verpflichten 
    - Die Resolution 62 der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vom 5. März 1992 mit dem Titel "Schutz der Roma" nachträglich zu unterzeichnen; 
    - Bei der Vergabe von deutschen Hilfen, Staaten auszuschließen, die Menschenrechtsverletzungen an Roma begehen. 

    Schikaniert durch Polizeikontrollen und "Auflagen" blieben zunächst 180 Roma (später 620) auf dem Heinrich-Stubbe-Weg nahe der Gedenkstätte. Die Polizei fand Unterstützung durch einen Bürgermob in der Region. Dieser erklärte sich aus gesundem Volksempfinden "im vollen Umfang solidarisch mit dem bisherigen Einsatz der Polizei" und zeigte sich besorgt, daß in "schwerwiegender Weise Eigentumsrechte verletzt" und das "Rettungswesen ... erheblich behindert" würde. Mit einem Autokonvoi und einer Unterschriftenliste protestierten die "Opfer" der "Behördenarroganz" gegen die unzureichende "Fäkalienentsorgung" und sahen in der Bleibeerlaubnis der Mahnwache einen eklatanten Verstoß "gegen die Präambel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar." 

    Wie schon in Rostock, Goldberg und anderen deutschen Städten setzen die Bürger ihr Menschenrecht "zigeunerfrei" zu bleiben mit Pogromen oder Bürgerinitiativen durch. Dem wird auf staatlicher Ebene mit Deportationsabkommen und der Abschaffung des Asylrechtes effizient entsprochen. 

    Nachdem die Mahnwache vor der Gedenkstätte Neuengamme aufgelöst wurde, haben die Roma beschlossen ihre Aktion am 7.6.1993 durch einen Autokonvoi zur Vertretung des Hohen Flüchtlingskommissars der UN nach Bonn fortzusetzen. 

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